Du kennst das bestimmt: Du hast dir endlich einmal wirklich Zeit zum Beten freigehalten. Und – Wunder über Wunder – es ist dir sogar gelungen, rechtzeitig dazusitzen.
Du hast nicht verschlafen, die Zeit nicht vergessen, keine Ausreden erfunden, um andere Dinge vorzuziehen. Dinge, die eigentlich weniger wichtig sind als das Gebet, aber die doch irgendwie immer ein klein wenig dringlicher scheinen, als jetzt einfach einmal zur richtigen Zeit die Laudes zu singen oder kurz den Kopf in die Kapelle zu stecken, um das Allerheiligste zu grüßen.
Wichtiger als die Meditation, die du dir vorgenommen hattest, oder dein Rosenkranzspaziergang. Und wie oft hast du es am Ende nicht einmal geschafft, überhaupt einen Anfang zu machen. Zu oft hast du wieder irgendeinen Vorwand gefunden, um in letzter Minute doch noch etwas anderes zu tun. Irgendwas mit dem Internet, meistens.
Aber diesmal war es anders. All diese Hindernisse hast du diesmal überwunden, und da sitzt du nun – frisch und aufgeräumt –, bereit, dein Herz zu Gott zu erheben.
Und dann denkst du plötzlich daran, dass da noch Bratwürste im Kühlschrank liegen, die bald ablaufen und dringend gegessen werden sollten. Und du denkst daran, dass du den Geruch deiner Mutter vermisst. Und du lächelst bei der Erinnerung an deinen Bruder, der, als er acht war, weinend aus dem Skilift kam, weil er auf dem Weg nach oben in die Hose gemacht hatte.
Und du denkst an … Gaza, Schnorcheln, Hagebuttentee, Hämorrhoiden, Wladimir Putin, dein Fahrrad ist kaputt. Du denkst und denkst – und setzt noch einen drauf. Und das Beten wird beinahe unmöglich. Denn deine Gedanken hängen quengelnd um deine Seele wie eine Mückenschwarm um dein Bett, wenn du zu schlafen versuchst.
Evagrius hat das einmal sehr treffend beschrieben in seinem Buch über das Gebet:
„Achte beim Gebet genau auf dein Gedächtnis, damit es dich daran erinnert, dass du dich in der Gegenwart Gottes befindest. Erlaube ihm nicht, dich durch Erinnerungen an deine Leidenschaften abzulenken. Der Geist hat nämlich die zähe Gewohnheit, sich im Gebet ausplündern zu lassen. Dann führt dein Gedächtnis dir Fantasien vor, oder Dinge aus der Vergangenheit, oder Sorgen von heute, oder das Gesicht eines Menschen, der dich verletzt hat.“
Und du fühlst dich schuldig. Denn ist es nicht ein Vorrecht, überhaupt frei zu sein, um beten zu dürfen? Und ist Gott nicht vielleicht die ehrfurchtgebietendste Wirklichkeit, die es gibt?
Er hat alles erschaffen, und ohne ihn ist nichts geworden von dem, was geworden ist, und ohne ihn bleibt nichts bestehen. Die ganze Wirklichkeit hängt in ihm. Er könnte zerstörerischer sein als ein neuer Urknall – alle Kraft und Macht ist in ihm verdichtet.
Seine Stimme ist schöner als die schönste Musik und ruft das ganze Universum ins Leben. Sein Sprechen ist nur scheinbar unhörbar: Der Tag sagt es dem nächsten Tag, und die Nacht flüstert es der folgenden Nacht. Auf sein Wort brechen die Reben in Knospen aus und öffnen sich die Sternenblumen am Abendhimmel in funkelndem Flüstern. Pulsierende Wortlein, die sich nach ihm verzehren.
Warum also kannst du deine Aufmerksamkeit nicht auf ihn gerichtet halten? Keine zehn Minuten lang? Er ist hier und jetzt für dich gegenwärtig, als das köstlichste Geheimnis, das alles übersteigt – und du denkst an Bratwürste? Was bist du für ein Mönch? Vollidiot!
Ehe du dich versiehst, beschimpfst du dich selbst und trampelst dich innerlich nieder. Dass gerade das es noch unmöglicher macht, Gottes Stimme zu hören – geschweige denn seine Nähe zu genießen – kommt dir da schon gar nicht mehr in den Sinn.
Du bist dann genau wie jemand, der im Bett liegt und nicht einschlafen kann. Immer öfter hebt er den Kopf, um auf seinen Wecker zu schauen, und mit jedem Blick wird es später. Je mehr die Uhr von der Nacht geschluckt hat, desto unruhiger wird er, und desto unwahrscheinlicher scheint es, dass er vor der Morgendämmerung noch zur Ruhe findet.
Was kann man tun? Denn man muss doch irgendetwas tun, oder? Wie kann ein solches Gebet überhaupt irgendeinen Sinn haben?
Und genau da liegt der Irrtum. Der Sinn des Gebets liegt nicht im Herunterleiern von Anliegen. Als ob der gute Gott vergesslich wäre und du ihn daran erinnern müsstest, dass irgendwo Menschen belagert und in die Luft gesprengt werden.
Oder hier um die Ecke mit Krebs ringen und schwere Behandlungen durchstehen. Oder gestorben sind und erlöst werden müssen.
„Herr, denkst du bitte daran, dass Tante Greta neue Knie bekommen soll und das eine ziemlich riskante Angelegenheit ist? Und vergiss nicht, Emma und Björn wohlbehalten aus Portugal zurückzubringen?“
Viele meinen auch noch, Gott könne sie nur hören, wenn sie ganz laut in Gedanken sprechen – und konzentrieren sich so sehr auf Tante Gretas Knie, dass sie selbst zu Tante Gretas Knie werden, sozusagen.
Das alles ist natürlich Unsinn. Gott weiß von allen Knien, Operationen, Flugreisen und Chemotherapien. Er trägt alles und ist allem voraus. Dass du dich mit all dem solidarisch verbindest und es in Gott hineinträgst, hat gewiss Sinn, weil jede Liebe sinnvoll ist. Aber buchhalterische Präzision ist dabei wirklich nicht nötig.
Ein weiteres Missverständnis ist, dass Gebet vor allem darum ginge, Gottes Gegenwart zu spüren. Wie du inzwischen wahrscheinlich gemerkt hast, ist Gott definitionsgemäß immer und überall gegenwärtig. Ob du das gefühlsmäßig miterlebst oder nicht, spielt dabei keinerlei Rolle.
Nicht das Erleben zählt, sondern – da sind wir wieder – die Liebe, die du in dein Gebet hineingießt. Diese Liebe zeigt sich nicht in der Menge an rührseligen oder süßen Gefühlen, die du hast oder nicht hast. Schon gar nicht in dem Trost, den du empfindest – oder eben nicht.
Denn Gefühle drehen sich um dich selbst und haben mit dem Beten nichts zu tun. Beim Gebet zählen deine Gefühle überhaupt nicht. Die göttliche Tugend der Liebe wird nicht mit deinen Gefühlen geübt, sondern mit deinem Willen.
Lieben heißt nicht, vor Rührung zu zerfließen, sondern aus tiefstem Herzen wollen, dass der andere existiert, ihm Gutes wünschen, sein Gedeihen und Aufblühen wollen. Diese Liebe, dieser Einsatz des Willens, trägt auch das Gebet.
Und es wird dich nicht überraschen, dass sie sich in diesem irdischen Tränental meist als Treue zeigt: Immer wieder zurückkommen, neu anfangen und im gewissen Sinne durchhalten.
Nicht aus eigener Kraft wie ein Leistungssportler – das wirkt zwar stark, ist aber in Wahrheit verkleideter Stolz. Wenn du es so versuchst, bekommst du garantiert ein Gebet voller Bratwürste, Familienerinnerungen, juckender Zehen und vergessener Einkäufe.
Durchhalten äußert sich nicht in zusammengekniffenen Pobacken, sondern in Vertrauen. Sich Gott überlassen. Nicht fühlen, dass er da ist und alles trägt – sondern diese Tatsache einfach annehmen als selbstverständliche Wahrheit.
Und ihn dann freundlich, aber beharrlich bitten, dich zu tragen. Dich und all die Gebetsanliegen, die in deinem Herzen leben. Nicht einmal – sondern wenn nötig tausend Mal.
Oft nimmt man dazu Stoßgebete. Der Beginn der meisten Horen ist ein berühmtes Beispiel: „Gott, komm mir zu Hilfe. Herr, eile, mir zu helfen.“ Es stammt vom Wüstenvater Abba Isaak und gelangte über den heiligen Kassian in die benediktinische Spiritualität.
Kassian empfahl es gerade für Zeiten, in denen das Gebet stockt:
„Wenn ich durch Reize von Zorn, Habgier oder Traurigkeit unruhig gemacht werde und gezwungen bin, jene Sanftmut, zu der ich mich verpflichtet habe – und die mir so lieb ist –, aufzugeben, dann handle ich so:
Damit mich die Erregung des Zorns nicht in giftige Bitterkeit entführt, rufe ich aus – unter einem Berg von Seufzern: ‚O Gott, neige dich zu mir und hilf mir! Herr, eile, mir zu helfen!‘
Wenn ich schwer geprüft werde durch Anflüge von Akedia, Eitelkeit oder Hochmut und mein Geist sich insgeheim darin verliert zu denken, dass andere nachlässig oder lau sind, dann muss ich beten.
Damit mich die üble Eingebung des Feindes nicht überwältigt, muss ich mit ganz zerknirschtem Herzen beten: ‚O Gott, neige dich zu mir und hilf mir! Herr, eile, mir zu helfen!‘
Wenn ich den Hochmut mit unablässigem Reuesinn beiseitegeschoben habe, wenn ich die Gnade der Demut und der Einfalt empfangen habe, dann muss ich zu Gott hinausschreien.
Damit mich nicht erneut die Ferse des Hochmuts zertritt und die Hand des Sünders mir keinen Anstoß gibt, muss ich mit aller Kraft rufen: ‚O Gott, neige dich zu mir und hilf mir! Herr, eile, mir zu helfen!‘
Wenn ich überkocht werde von Myriaden seelischer Ablenkungen und mit unbeständigem Herzen meine zerstreuten Gedanken nicht mehr bändigen kann, dann muss ich Gott mein Elend klagen.
Wenn ich meine Gebete nicht einmal mehr sprechen kann, ohne sie zu unterbrechen oder mich von törichten Fantasien ablenken zu lassen oder mich an alte Worte und Taten zu erinnern, dann muss ich mein Elend Gott klagen.
Wenn ich mich bedrängt fühle von dieser trockenen Wüste und den Eindruck habe, dass ich keine einzige geistliche Regung mehr hervorbringen kann, dann muss ich – damit ich würdig werde, von dieser Fäulnis des Geistes befreit zu werden, die ich durch Seufzen und Stöhnen nicht von mir abschütteln kann – mein Elend vor Gott klagen: ‚O Gott, neige dich zu mir und hilf mir! Herr, eile, mir zu helfen!‘
Und umgekehrt: Wenn ich spüre, dass ich durch das Kommen des Heiligen Geistes Richtung gewonnen habe, Festigkeit des Denkens und Freude des Herzens … Wenn ich zudem unaussprechliche Freude und ein Überströmen des Geistes erfahre, wenn ich durch eine plötzliche Erleuchtung des Herrn von einer Flut geistlicher Gedanken überrollt werde (an die ich vorher nie gedacht hätte), dann muss ich – damit ich würdig werde, in all dem noch länger zu verweilen – oft und voller Hingabe rufen: ‚O Gott, neige dich zu mir und hilf mir! Herr, eile, mir zu helfen!‘“





