Du kommst aus Deutschland – also bist du immer todernst, überkorrekt, liebst Regeln und Autoritäten. Stimmt’s? Nein?
Wirfst du etwa gern Eier auf die Polizei?
Nackt?
Oder… ich sehe schon, das irritiert dich.
Ein bisschen dünnhäutig bist du aber schon, oder?
Nein?
Du magst Ballett?
Also bist du sicher schwul.
Was für ein hübsch-buntes Outfit du trägst!
Du wählst bestimmt links, oder?
Nichts ist so ärgerlich wie ein Etikett, das dir von außen aufgeklebt wird und nichts mit dir zu tun hat.
Wir Menschen stecken einander ständig in Schubladen – und hassen es zugleich, selbst hineingesteckt zu werden. Es beengt uns. Wir wollen frei sein, wir selbst sein dürfen.
Und doch empfinden wir es in anderen Momenten als tröstlich und sicher, zu einer Gruppe zu gehören. Dann passen wir unsere Vorlieben und Überzeugungen an, nur um dazuzugehören – und stecken uns freiwillig wieder selbst in eine Schublade.
Alles ist verwirrend, weil der Mensch verwirrend ist.
Ich zum Beispiel habe eine ausgesprochene Vorliebe für die alte lateinische Messe.
Warum und wieso, tut hier nichts zur Sache.
Sehr wohl aber die Schlussfolgerungen, die andere sofort daraus ziehen.
Ach – die alte Messe.
Also liebst du Thomas von Aquin und die aus ihm abgeleiteten theologischen Handbücher.
Du bist sicher ethisch konservativ, fixiert auf Sexualität, Abtreibung, Sterbehilfe – und vor allem auf Homosexuelle.
Du bist gegen Vielfalt und Nachhaltigkeit, wählst wahrscheinlich rechtsextrem und hörst ausschließlich klassische Musik von eher bräunlicher Sorte. Wagner und so.
In Wirklichkeit finde ich die Theologie des Thomas von Aquin meist unerträglich langweilig – die seiner Nachfolger sogar unerträglich schlecht.
Mich interessieren fast ausschließlich mystische Theologen. Andere lese ich auch, aber meist aus Pflichtgefühl.
Ethisch schätze ich klassische Werte, aber nicht notwendigerweise klassische Normen.
Ich habe nichts gegen Homosexuelle und interessiere mich ernsthaft für ökologische Fragen.
Und es gibt keinen einzigen Gedanken in mir, der meint, es sei eine gute Idee, alle Muslime aus dem Land zu werfen.
Ich wähle meistens irgendetwas aus der politischen Mitte und liebe frankophonen Rap aus Belgien.
Wenn ich klassische Musik höre, ist sie oft kanadisch oder hindi – also aus Indien.
Menschen, die mich in ein Framing pressen und nicht damit aufhören wollen, meide ich.
Denn ich möchte ich selbst sein dürfen.
Aber was ist, wenn es um Gott geht?
Auch er will er selbst sein dürfen.
Und doch legen wir ihn ständig fest, stecken ihn in eine Schublade – oder gleich in zehn.
Dionysius der Areopagit schrieb darüber bereits im sechsten Jahrhundert in seiner Mystischen Theologie.
Er sagt sinngemäß:
Wir geben der Ursache, die über allem steht, eine Gestalt, die wir auf das Niedrigste gründen, das es überhaupt gibt. Und so tun wir, als wäre Gott nicht erhaben über diesen ungeheuren Haufen unfrommer Bilder, den wir uns zusammengezimmert haben.
Gott ist die Ursache von allem. Darum müssen wir ihm einerseits alle Eigenschaften zuschreiben.
Aber zugleich – und noch viel zutreffender – müssen wir all das auch wieder verneinen. Denn er steht über allem Seienden.
Und glaube nicht, dass das, was du verneinst, im Widerspruch stünde zu dem, was du zuvor bejaht hast.
Gott ist über jede Verneinung ebenso erhaben wie über jede Bejahung.
Alles, was du über ihn sagst, musst du zugleich wieder zurücknehmen.
Jede Eigenschaft, die er zu haben scheint, besitzt er auch in gegenteiliger Weise:
Er ist die strahlende Dunkelheit, das hallende Schweigen, das kühlende Feuer.
Diejenigen von uns, die sich intensiv mit diesen Dingen beschäftigen, verstehen das meist mit dem Verstand.
Doch unser Gefühlshaushalt hat seinen eigenen Willen. Unaufhaltsam drängt er darauf, Gott wieder in Bilder zu pressen – Bilder, die dann ein Eigenleben entwickeln und uns den Blick auf ihn verstellen.
Dieser Prozess hört fast nie auf. Wir können einfach nicht anders.
Und dann tut Gott – oder sie, oder es – genau das, was auch wir an seiner Stelle tun würden:
Er zieht sich zurück. Er entzieht sich unserem Beten.
Dann wird es in uns dunkel und leer.
Denn unsere Gottesbilder haben keine Seele mehr, keine persönliche Gegenwart.
Ihre wahre Natur tritt zutage: Es sind bloß Bilder, Vorstellungen, kleine Püppchen – eigentlich Götzen. Meist nicht absichtlich gemacht, sondern unbemerkt gewachsen.
Sie schauen nicht zurück, wenn du sie anschaust.
Wenn du ihnen dein Herz ausschüttest, schweigen sie ohrenbetäubend.
Wenn du Geborgenheit suchst, findest du sie nicht.
Sie sind kalt und seelenlos wie der Tod selbst.
Darum musst du ihnen den letzten Stoß geben.
Loslassen. Zerbrechen lassen.
Aber das verlangt große Selbstbeherrschung.
Denn du hängst an ihnen. Du willst sie retten, bewahren, verteidigen.
Genau hier werden Menschen fanatisch oder fundamentalistisch.
Dann muss ihr Gott um jeden Preis gerettet werden – fast immer auf Kosten des anderen.
Doch ein Gott, den du tragen musst, statt dass er dich trägt, ist nicht anbetungswürdig.
Denn ob du es nun witzig findest oder nicht:
Eines Tages wirst du sterben.
Deine ganze Spannung wird nachlassen.
Alles, was du festgehalten hast, musst du loslassen.
Und dann wäre es gut, wenn sich herausstellt, dass Gott dich all die Zeit getragen hat – und nicht du Gott.
Denn wenn Letzteres der Fall ist, werdet ihr gemeinsam fallen.
Gott lässt sich nicht greifen, nicht begreifen, nicht einmal benennen.
Er übersteigt alle Namen, Bilder und Blicke – und entgleitet zugleich.
Deine eigene Seele tut im Grunde dasselbe.
Sie geht in jedem Moment ihres Daseins aus eben dieser unbenennbaren Herrlichkeit hervor.
Sie empfängt sich selbst aus ihr.
Meister Eckhart schreibt darüber:
Wollte Gott je in das Innerste der Seele schauen, müsste ihn das alle seine göttlichen Namen kosten, ja selbst seine personale Eigenart. All das müsste er draußen lassen.
So wie Gott eine einfache Einheit ist – ohne jedes Wie und jede Eigentümlichkeit –, so tritt er ein in das Eine, das ich das Bürglein der Seele nenne.
Und auf keine andere Weise tritt er dort ein.
In diesem innersten Grund ist die Seele Gott gleich – und in nichts anderem.
Was ich euch gesagt habe, ist wahr.
Als Zeugen rufe ich die Wahrheit selbst und meine Seele als Pfand.
Mögen wir ein solches Bürglein sein,
in dem Jesus aufsteigt, empfangen wird und ewig bleibt – auf die Weise, die ich beschrieben habe.
Dazu helfe uns Gott.
Amen.
Wenn du also kein Bild von Gott hast und dir die Worte fehlen, wenn man dich nach ihm fragt, dann ist das nicht unbedingt schlimm.
Beten heißt loslassen
und Raum schaffen.





